Wie ich auf Vietnam gekommen bin. Und was das mit meinem Vater zu tun hat, und weshalb die Reise in Thailand beginnt.
Als ich etwa 30 Jahre alt war, hegte mein Vater Auswanderungspläne für Vietnam. Ich erinnere mich noch genau, als ich mit meinen Kindern und meinem damaligen Ehemann bei meinen Eltern zu Besuch war, wie er schwärmte. Es lagen GEO-Magazine herum. Es liefen Reisesendungen im Fernseher. Er erzählte von seinen Plänen, junge Goldschmiede auszubilden. Eines Tages ging er nach einigen Reisen definitiv, und wir verloren uns etwas aus den Augen. Ab und zu ein Mail, ein paar Fotos und dann die Ankündigung, dass er nochmals Vater geworden sei. Etwas später kam noch ein zweites Kind dazu. Ich hatte also zwei halbvietnamesische Halbschwestern. Meine Gefühle waren gemischt.
Wiedersehen in Bangkok
Familie ist für mich wichtig. Also beschloss ich eines Tages, meinen Vater zu besuchen und meine Schwestern kennen zu lernen. Ich wusste, wenn ich diesen Schritt mache, und eine Bindung zu ihnen aufbaue, würde das mein Leben verändern.
Nach ein paar Jahren in Saigon hatte es meinen Vater mit seiner Familie nach Bangkok verschlagen. Das traf sich gut, denn mein damaliger Freund ware schon dutzende Male in Thailand gewesen und kannte sich dort bestens aus. So besuchten wir meinen Vater und gingen dann weiter auf eine Insel mit abgelegenen sehr wenig touristischen Stränden und kleinen Dörfern an den Strassen. Es war wie in all den GEOs, die bei uns herumlagen, als ich noch ein Kind war: die Düfte, die Stimmung, die Lichterketten überall, die Motorbikes, das Leben draussen, staubige Strassen und die Garküchen. Es war Reisen, wie ich es mir schon immer gewünscht hatte: Abenteuer, nicht zu viel planen, ohne Hotelbuchung improvisieren, Motorbike fahren, sich unter die Bevölkerung mischen und einfach in den Tag hineinleben.
Das letzte Mal, als ich in Thailand war, hat sich mein Vater einer Operation in Bangkok unterziehen müssen. Eine Freundin hat mich begleitet. Wir waren da, um die vietnamesische Frau meines Vaters etwas mit den Kindern zu unterstützen und sie abzulenken. Wir gingen nach ein Paar Tagen weiter an einen Strand.
Anlässlich dieser Reise erzählte mein Vater mir, dass er vor habe, wieder nach Vietnam zu ziehen. Ich erinnere mich, dass er mich fragte, ob ich ihn besuchen werde. Er versicherte mir: «Wenn dir Thailand gefällt, wirst du von Vietnam begeistert sein»
Das erste Mal Vietnam
Zum ersten Mal nach Vietnam bin ich 2014 geflogen. Es war ein relativ spontaner Entscheid. Ich war gerade in der Scheidung und musste dringend andere Luft schnuppern. Es stellte sich heraus, dass der Tumor meines Vaters doch noch da war, und es drängte mich, wieder zu ihm und meinen Halbschwestern zu reisen. Seine zwei Töchter waren mir schon echt ans Herz gewachsen, und es war fast so, als wären sie meine Töchter. Ich hatte etwas Geld beiseite legen können. Das reichte für zwei Personen und zwei Wochen Vietnam. Ich fragte meine Töchter, ob jemand von ihnen mitkommen möchte, und so flogen wir zu zweit nach Saigon aka Ho Chi Minh City. Wir hatten drei Tage dort geplant, der Rest war offen. Es war genau wie jetzt Tet. Mein Vater bemerkte: «Es ist Tet, jetzt ist wenig Verkehr». Ich dachte: «Wenig Verkehr? Wie schaut es aus, wenn es viel Verkehr hat?»
Ich war froh, holte uns mein Vater am Flughafen ab. So sicher im Reisen fühlte ich mich noch nicht. Das Land war zwar ähnlich wie Thailand, aber doch fremd. Saigon war relativ unspektakulär. Mein Vater zeigte uns den Ben Thanh und die Alte Post. Er übernahm die Führung. Schön und faszinierend waren die mit Blumen dekorierten Strassen anlässlich des Tet.
Am zweiten Tag gingen wir ins lokale Reisebüro, um ein paar Tage am Meer zu buchen. Das gestaltete sich etwas schwierig. Wir waren ziemlich lange dort, die Züge waren voll, die Busse auch, und die Schiffe fuhren nicht an den Feiertagen. Schliesslich empfahl uns der Reiseberater Mui Ne. Wir mussten ja die Reise noch bezahlen. Dazu musste ich zu einem Bancomaten, um Geld abzuheben. An keinem Automaten kam Geld heraus, nur Fehlermeldungen. Ich fing an, leicht panisch zu werden. Was wenn ich kein Geld bekommen würde, ich habe ja noch einen Teenager dabei! Die Kombination von Reisebüro, die vielen «nein, das geht leider nicht» und die Bancomaten, die nicht funktionierten, brachten mich an meine Belastungsgrenze. Ich hatte regelrechte Aggressionen, am liebsten hätte ich einen Bancomaten in die Luft gesprengt.
Beim siebten Automaten hatte es dann doch geklappt. Um sicher zu sein, hob ich gleich 12 Millionen Dong ab (etwa 500 Franken). Mein Portemonnaie brachte ich fast nicht mehr in meine Tasche, aber so fühlte ich mich sicher. Hey, ich war einmal in meinem Leben Millionärin.
Das Aha-Erlebnis
Wir reisten dann mit dem Zug nach Phan Thiet und von da aus mit dem Taxi nach Mui Ne. Ich hatte noch diese Orte in Thailand im Kopf. Ruhige Strände, nur Meeresrauschen. Das war da aber ganz anders. Der Verkehr war wie in der Grossstadt. Lärm. Das Hotel war recht hässlich, staatlich subventioniert, auf Möchtegern-Schicki-Micki gemacht, Plastik vergoldet. Am Stand ein Hotel neben dem anderen. Der Strand selbst mit Beton zugebaut. Kein einsamer Bungalow am Strand, wo die Palmen einfach irgendwo wild wachsen. Und vor allem viele russische Touristen, und jeder Laden und jedes Restaurant war auf sie ausgerichtet.
«Du wirst begeistert sein», erinnerte ich mich an die Worte meines Vaters. Wirklich? Mir gefiel Thailand besser. Glücklicherweise litt meine Tochter unter Jetlag. Sie schlief bis 14 Uhr, und ich wollte weg hier. Also fragte ich meinen Vater, der mit seiner Familie auch in diesem Hotel war, ob er zu ihr schauen könnte. Ich wollte mir ein Motorbike leihen. Ich musste einfach etwas weg vom Touristenstrom.
Ich fuhr der Küste entlang, durch Dörfer. Die Touristenmasse nahm ab. Dann eine kleine Strasse, die mich in ein Fischerdorf führte. Da wollte ich parkieren. Doch mein Motorbike hing mit dem Vorderrad in einer Rinne fest. Ich brachte es nicht mehr raus. Zwei junge Vietnamesen lachten zuerst, doch dann kamen sie und halfen mir. Ich erlebte zum ersten Mal die vietnamesische Hilfsbereitschaft.
Am Hafen angekommen, sah ich nur Blau (meine Lieblingsfarbe): eine Bucht, blaues Meer, hunderte von blauen Fischerbooten. Ein einziger Tourist, der mit seiner Kamera und einem riesigen Objektiv das Treiben fotografierte. Menschen, die am Strand sassen auf ihren Plastikstühlen, am Essen waren und mich freundlich anlächelten und «hello» riefen. Fischer, die Fische mit Körben und Netzen ans Land zogen. Im Dorf Kinder, die ihren Müttern halfen, die Fische zu sortieren. Und am Stand einen silbernen Teppich aus Fischen, die auf Bambusrahmen trockneten.
Vietnam, Teil der Familie
Zum ersten Mal, seit ich hier angekommen war, dachte ich: «Wow, wenn das Vietnam ist, muss ich mehr davon haben». Die zweite Reise trat ich dann ein Jahr später an, mit meinen vier anderen Töchtern. Ich wollte Ihnen das Land unbedingt auch noch zeigen. Mein Vater war aus gesundheitlichen Gründen wieder in die Schweiz gezogen. Meine kleinste war damals erst neun. Das war schon etwas mutig, aber so schöne Ferien hatte ich in den 20 Jahren davor nur selten gehabt.
Inzwischen bin ich acht Mal in Vietnam gewesen. Bei der Passkontrolle müssen sie den Visumsdschungel meines Passes durchsuchen. Manchmal schmunzeln sie dann leicht. Durch meine Halbschwestern und ihre Mutter gehört Vietnam zu meiner Familie. Ich habe ich kaum noch Erinnerungen an Thailand, sie sind verblasst. Es reizt mich auch kaum noch.
So viele Erlebnisse in Vietnam haben mich geprägt. Hilfsbereitschaft, Gastfreundschaft, Fürsorge, Fröhlichkeit, Kontaktaufnahmen von Kindern zu Kindern, schöne abgelegene Orte, staubige Strassen, Garküchen, von welchen ich am liebsten alles probieren möchte und auch keine Berührungsängste mehr habe. Unzählige, schöne Erlebnisse vor allem auf der zwischenmenschlichen Ebene und vor allem dann, wenn ich mit Kindern unterwegs bin.
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