Eigentlich war ich nur auf der Suche nach etwas zu essen – und dann einer Karaoke-Bar. Unweit meines Homestays hörte ich Musik. Karaoke? Vietnamesische Musik: der chinesisch angehauchte Klang, mit Synthesizern bearbeitet und ziemlich verdreht, gefällt mir. Aber nur hier. Zuhause gefällt er mir nicht. Ein typischer Ferieneffekt.
Die Musik kam aus einer kleinen Seitengasse. Neugierig beschloss ich, nachzusehen, was dort los ist. In einem Hinterhof sassen Menschen – Kinder, junge und alte – vor einer Art Bühne, geschmückt mit Blumen. Die Menschen die sangen waren «verkleidet». Es erinnerte an China. Im Hintergrund hingen zwei eingerahmte Porträts eines Mannes und einer Frau, umrahmt von glitzernden Lichtern. Eine Beerdigung? Oder eine Zeremonie zu Ehren Verstorbener? Ich war mir unsicher und wollte schon wieder gehen, als mir ein Mann einen Plastikstuhl und ein Bier anbot. Überraschung und Neugier siegten, und ich nahm die Einladung an.
Kurz darauf brachte eine Frau Früchte und Frühlingsrollen. In meinem typisch schweizerischen Misstrauen schossen mir Gedanken durch den Kopf: Wollen sie mir etwas klauen? Sind K.-o.-Tropfen im Bier? Doch es kam immer mehr Essen, mehr Bier, und schliesslich sogar Zigaretten. Sie wollten Selfies mit mir machen. Am Anfang war mein Körper wie Blei auf meinem Plastikstuhl bis ich bemerkte, dass ich nichts zu befürchten habe.
Der «offizielle Teil» war im Gange: Männer und Frauen traten vor die Bilder, knieten sich nieder, und zündeten Räucherstäbchen an. Im Hintergrund eine Leuchtschrift mit Jahrgängen, 1962 und 1958. Und dann wurde wohl der «offizielle Teil» beendet: jeder, der wollte, durfte singen. Ja, ich habe wohl etwa einen Liter Bier mitgetrunken – Wein würde ich hier nicht empfehlen, ausser er kommt aus Australien oder Chile.
Meine Tischnachbarin bot mir irgendwann eine Zigarette an. Sie schmeckte fruchtig, ganz anders als gewohnt. Im Gegenzug reichte ich meine koreanischen Zigaretten mit Orangengeschmack weiter – die kamen offenbar nicht so gut an. Was mich fasziniert: hier kennt man keine Berührungsängste. Wer Platz brauchte, schiebt Menschen einfach weg. Wer sich abstützen möchte, tut es beim nächstbesten Menschen – in diesem Fall bei mir.
Nach und nach leerte sich die Runde, der Abend neigte sich dem Ende zu. Als meine Selfie-Kollegin nach vorne trat, um zu singen, beschloss ich, mich auf den Rückweg zu machen. Wie verabschiedet man sich in so einer Situation? Ich legte die Hände zusammen und machte eine kleine Verbeugung. Es schien gut anzukommen.
Diese Menschen werde ich wohl nie wiedersehen. Doch sie haben mich mit offenen Armen empfangen: das ist Vietnam. Ein Land das so viel erlebt hat, aber trotzdem freundlich geblieben ist. Zumindest wirkt das so.
Müde und glücklich gehe ich nun ins Bett. Das war der wohl verwirrendste, aber auch schönste Abend in Vietnam. Ein verfrühtes Geburtstagsgeschenk. Und wertfrei beobachten, das haben ich irgendwie nicht geschafft heute, aber vielleicht Wert-arm?
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